Kreativität, Perfektionismus und der Blick von außen
Wenn die Kreativität wild um sich schlägt, hat die Vollkommenheit Pause. Es ist vor allem für Perfektionisten wie mich eine große Herausforderung, meinen Anspruch in bestimmten Situationen herunterschrauben und mich auf die Wildheit der Kreativität einzulassen. Im Moment verfasse ich gerade meine 7. Roman-Rohfassung und ich habe im Laufe der letzten Jahre gelernt, dass es gerade in dieser ersten Phase des Romanschreibens wichtig ist, den Perfektionisten wegzusperren. Es geht im ersten Schritt darum, die Ideen fließen zu lassen, den Plot zu erkunden und die Charaktere lebendig werden zu lassen.
Die Rohfassung ist der Ort, an dem wir unsere Kreativität entfesseln. Es ist okay, wenn nicht alles perfekt ist; das Überarbeiten kommt später und erst in diesem nächsten (ebenfalls wichtigen) Stadium der Romanentstehung nimmt man das Tempo heraus.
Zuallererst geht es jedoch lediglich darum, den Puls der Geschichte zu spüren, den Rhythmus der Worte zu finden und die Handlung zu entfalten. Die Figuren dürfen unstetig sein, die Dialoge dürfen rau sein – das Wesentliche ist es, die Essenz der Erzählung einzufangen.
Mein Tipp: Nehmt euch nicht zu viel Zeit für eure Rohfassung. Im Gegenteil: Setzt euch unter Druck, lasst die Gedanken fließen, die Wangen glühen und die Finger über die Tastatur flitzen. Jeder Satz bringt euch eurem Ziel eines fertigen Romans näher.
Den inneren Kritiker Ausschließen
Auf die Frage, wie viel Zeit man für die Erstellung einer Rohfassung einplanen soll, gibt es keine Antwort. Der Aufwand ist abhängig von der Geschichte, dem Genre, in dem man schreibt, vom geplanten Umfang und anderen Faktoren. Ich habe für Erstentwürfe schon zwei Jahre gebraucht, für andere zwei Monate. Doch je konsequenter man dranbleibt (z.B. mit der Non-Zero-Methode) und sich von perfektionistischen Ansprüchen an sich selbst löst, desto schneller und besser wird die erste Fassung.
Mehr zu diesem Thema erzählen Jana Beck von schreibtraeume-leben.at und ich auch in unseren Workshops. Den inneren Kritiker bewusst aus dem Schreibprozess auszuschließen, ist eine Befreiung, die sich in der Qualität des Textes niederschlägt und Schreibende besser/flüssiger vorankommen lässt.
Der Blick von außen
Der Blick von außen ist überhaupt erst in einem weiteren Schritt, nach der gewissenhaften Überarbeitung, angebracht. Testleser sollten erst zu Rate gezogen werden, wenn der Autor nach dem Feinschleifen des Textes zu dem Schluss kommt, dass er/sie nichts mehr daran verbessern kann. Ich halte es für unangebracht, Testleser und Lektoren bereits früher in den Entstehungsprozess einzubinden. Sie sind nicht dazu da, dem Verfasser die Arbeit abzunehmen. Ihre Aufgabe ist es, ein für den Autor fertiges Werk zu beurteilen und ihre Meinung dazu abzugeben. Natürlich ist es möglich, sich Ratschläge und Tipps von außen einzuholen, wenn man an einem konkreten Punkt nicht weiterkommt.
Die Rohfassung ist somit ein intimes Dokument, das allein dem Verfasser vorbehalten ist. Wenn Zweifel an der Qualität des Textes aufkommen, kann man sich das in Erinnerung rufen und einfach weiterschreiben.
Ob das alles so stimmt?
Mein Plädoyer für das rasche Verfassen des Erstentwurfs eines Romans oder einer Geschichte mag sich für manche Autoren als richtiger Weg herausstellen. Selbstverständlich gibt es auch erfolgreiche Schriftsteller, die von Beginn an jeden Satz genau planen und erst aufschreiben, wenn sie sicher sind, dass er so stehen bleiben kann. Der Aufwand im zweiten Schritt der Überarbeitung ist für jene Gruppe von Schreibenden natürlich viel geringer. Beide Herangehensweise haben ihre Vor- und Nachteile. Erst, wenn man alles durchprobiert hat, weiß man, wie man selbst am sichersten ans Ziel kommt und dabei auch noch Spaß am Schreiben hat! Denn das ist doch das Wichtigste, oder?